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"Ohne deutsche Waffen könnte dieser Krieg gar nicht weitergeführt werden"

Was sich gegenwärtig in der deutschen Sozialdemokratie abspielt, ist ein bemerkenswerter Prozess der Selbstverzwergung. Eine Partei, die maßgeblich zu Wohlstand und Ansehen Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg beigetragen hat, ist dabei, sich einer fast schon masochistisch anmutenden Selbstkasteiung zu unterziehen und sich von ihrer Vergangenheit loszusagen.


Mit den ordnungspolitischen Grundsätzen eines Karl Schiller oder Helmut Schmidt („So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig“) möchte die SPD schon lange nichts mehr zu tun haben und sucht stattdessen ihr Heil in bürokratischer Regelungswut und staatlich subventionierter Investitionslenkung. In der Sozialpolitik nähert man sich grünen Vorstellungen eines bedingungslosen Grundeinkommens an, um vor allem deutlich zu machen, dass man mit den Reformen der Ära Schröder nichts mehr zu tun haben möchte.


Und jetzt soll auch noch das Denkmal Willy Brandt geschleift werden. Anders lässt sich der offene Brief, den fünf Professoren mit SPD-Parteibuch an den Parteivorstand gerichtet haben, kaum lesen. Zwar wird der Name des langjährigen Parteivorsitzenden, Kanzlers und Friedensnobelpreisträgers nicht ausdrücklich erwähnt. Aber er ist natürlich – zumindest auch – gemeint, wenn „die Tradition der Bahrschen Außenpolitik“ als "romantisierendes Markenzeichen" der SPD verächtlich gemacht wird und über die "Fehler in der Russland-Politik der letzten Jahrzehnte" schwadroniert wird, die endlich "ehrlich aufgearbeitet" werden müssen.


Für die fünf Professoren ist klar, „ernsthafte Verhandlungen“ mit Russland wird es nur geben, wenn „endlich eine klare Strategie für einen Sieg der Ukraine“ benannt wird, bei der „der Westen seine erheblich größeren Ressourcen so lange wie nötig“ einsetzt und „den Drohungen des neo-imperialen Russland, weitere europäische Länder anzugreifen“, klare Grenzen setzt. Wer hingegen, wie der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, den Krieg einfrieren möchte oder gar in der Tradition von Willy Brandt und Egon Bahr einer Politik der Entspannung des Wort redet, ist naiv und hat „ein falsches Bild von russischer Politik und russischen Interessen“.


Ganz selbstlos ist der Appell natürlich nicht. Denn ein wenig geht es auch um Renommée und Anerkennung der eigenen Zunft, die sich offensichtlich vernachlässigt fühlt. Denn ihren naiven Irrtümern würde die selbsternannte „Friedenspartei“ nach Meinung der fünf Professoren jedenfalls dann nicht aufsitzen, wenn sie die „wertvollen Wissensressourcen von Expert*innen (sic!) und Wissenschaftler*innen für ihre Entscheidungsfindung nutzten“ anstatt sich

in „wissenschaftsfeindlichen Aussagen“ zu ergehen und damit „einer gefährlichen Desinformationskultur“ den Boden zu bereiten.


Wer diesen offenen Brief liest, fragt sich, weshalb seine Autoren jemals der SPD beigetreten sind. Und noch mehr verwundert, mit welcher Chuzpe sie ihre individuellen Einschätzungen als wissenschaftliche Wahrheit deklarieren.


Was waren denn die Fehler der Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte? War es nicht vielleicht in Wahrheit ein Fehler, ein Land nach dem andern in die NATO aufzunehmen, ohne jemals ernsthaft mit Moskau über ein System kollektiver Sicherheit unter Einbeziehung Russlands zu diskutieren, wie es bei den 2 + 4 Verhandlungen über die Einheit Deutschland selbstverständlich geplant war und zuletzt von Vladimir Putin in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag im Jahr 2001 in Erinnerung gerufen wurde. Wer von einem russischen Neoimperialismus spricht, sollte zumindest zur Kenntnis nehmen, dass sich die NATO in den letzten 25 Jahren – und nicht erst seit Putins Überfall auf die Ukraine – immer mehr als Verteidigungsbündnis gegen Russland definiert und die Schlinge um den Gegner immer enger gezogen hat, was zwar objektiv keine Bedrohung sein mag (, da die NATO bekanntlich ein Verteidigungsbündnis ist), aber aus russischer Sicht durchaus auch anders verstanden werden kann.


Und auch das viel bemühte Narrativ von der „fehlgeleiteten Energiepolitik“ und der „fatalen Abhängigkeit von Moskau“ wird durch ständige Wiederholung nicht richtiger. Wenn Russland zweistellige Milliardenbeträge in den Bau von Gaspipelines nach Westeuropa investiert, dann macht sich Russland eher von uns abhängig als umgekehrt. Denn allein eine weitere Pipeline aus Russland hindert in Westeuropa niemanden daran, seine Gasversorgung durch den Bau von LNG-Terminals oder anderen Leitungssystemen aus verbrauchsnäheren Lieferländern auf eine diversifiziertere Basis zu stellen. Hätte Russland das Geld für Nordstream 1 und 2 in Pipelines nach Indien oder China gesteckt, wäre die Situation bedrohlicher, denn dann hätte Russland seine Gaslieferungen tatsächlich vom politischen Wohlverhalten der Abnehmer abhängig machen können.


Auch die Behauptung, Putin habe erst dann ein Interesse, diesen Krieg zu beenden, wenn ihm die maximale militärische Stärke des Westens entgegengesetzt wird, um einen Sieg der Ukraine zu ermöglichen, dürfte einem Fakten- und Plausibilitätscheck kaum standhalten. Es mag ja sein, dass Putin, wie die selbsternannten Expert*innen behaupten, einmal den Plan verfolgt hat, „die Ukraine vollständig zu zerstören“. Und womöglich hegt er tatsächlich auch absurde Allmachtsfantasien von der Wiederherstellung der alten Sowjetunion

beziehungsweise einer Renaissance des Zarenreiches. Aber wo steht er denn heute? Dieser Krieg ist für Putin schon lange ein Fiasko. Seit über zwei Jahren hat sich seine jedenfalls zum Teil auf dubiose War Lords und Söldner gestützte Armee festgebissen in einem Stellungs- und Zermürbungskrieg. Nirgendwo wurde er als Befreier begrüßt und mittlerweile muss er in Nordkorea und im Iran um Waffen betteln, um diesen Krieg fortsetzen zu können. Mit dem Beitritt von Finnland und Schweden ist die NATO-Übermacht aus seiner Sicht noch bedrohlicher geworden. Die Aussicht, perspektivisch zum Juniorpartner Chinas zu werden, dürfte für das stolze Russland noch demütigender sein, als vom amerikanischen Präsidenten abschätzig als „Regionalmacht“ bezeichnet zu werden. Und sein Land beklagt nicht nur immer mehr Opfer, sondern leidet zunehmend unter der Kriegswirtschaft.


Aus diesen Gründen spricht vieles dafür, dass Putin verhandlungsbereit ist. Ob er es wirklich ist, weiß man naturgemäß immer erst dann, wenn ihm ein verhandlungsfähiges Angebot vorgelegt wird. Gerade darauf aber wollen es die fünf Professoren lieber nicht ankommen lassen. Vielmehr soll der Krieg erst einmal weitergehen mit allem, was der Westen militärisch aufbieten kann. Darunter fallen selbstverständlich auch die deutschen Taurus-Marschflugkörper, hinsichtlich derer dem Kanzler attestiert wird, „erratisch und nicht selten faktisch falsch“ zu argumentieren. Da haben die Professoren vielleicht sogar recht. Es wäre in der Tat besser gewesen, wenn Olaf Scholz von Anfang an klar gemacht hätte, dass er die Kontrolle über dieses Waffensystem schon deshalb nicht aus der Hand geben möchte, weil er Herrn Selenskyj eben nicht vertraut, dass er dieses nicht auch zu einem Schlag gegen Russland und womöglich Moskau einsetzen würde, wenn sich die militärische Lage seines Landes weiter verschlechtert.


Anstatt dem Rat der Professoren zu folgen und angebliche Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten, sollte sich die SPD ihrer Tradition als Friedenspartei besinnen. Nicht die Politik der Hallstein-Doktrin, die auf eine unversöhnliche Abgrenzung gegenüber dem Sowjet-Imperium setzte, hat den Eisernen Vorhang zum Einsturz gebracht, sondern eine Politik der Entspannung, der Annäherung und der Versöhnung hat zum Ende des kalten Krieges geführt. Und vor allem eine Politik der Diplomatie und Verhandlungsbereitschaft.


Und die Möglichkeit dazu besteht auch heute. Deutschland ist längst der mit Abstand größte Waffenlieferant der Ukraine. Ohne deutsche Waffen könnte dieser Krieg gar nicht weitergeführt werden. Daraus erwächst nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verantwortung und Verpflichtung, darüber nachzudenken, wie dieser Konflikt beendet werden kann. Ein Vorbild könnte

man sich dabei an Helmut Schmidt nehmen. Der Erfinder des NATO-Doppelbeschlusses stellte Anfang der 80er-Jahre die Stationierung von Mittelstreckenwaffen unter den Vorbehalt, dies nur zu tun, wenn die Sowjetunion nicht bereit sein würde, sich auf ein umfassendes Rüstungskontrollabkommen über das Verbot sämtlicher derartiger Waffensysteme in Europa einzulassen. Genauso könnte man Waffenlieferungen an die Ukraine mit der Bedingung verknüpfen, dass Russland nicht zu einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen bereit ist. Das hörte sich dann anders an als Waffenlieferungen "however long it takes", wie sie Olaf Scholz aktuell der Ukraine in Aussicht gestellt hat. Denn das läuft darauf hinaus, dass allein Herr Selenskyj darüber entscheidet, wie lange ein Krieg noch andauert, der nur mit deutschen Waffen überhaupt weitergeführt werden kann.


erschienen am 05.04.24 auf www.thepioneer.de

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