Interview Thomas Geisel war mal SPD-Oberbürgermeister von Düsseldorf, jetzt tritt er für die Wagenknecht-Partei bei der EU-Wahl am 9. Juni an. Mit vernünftiger Wirtschaftspolitik kriegt man die AfD klein, sagt er. Wie genau will er das schaffen?
Manche beschreiben Thomas Geisel als Wirtschaftsliberalen, der Schröders Agenda-Politik nachtrauert. Er selbst sieht sich als klassischen Sozialdemokraten. Auf der Terrasse des Hamburger Alsterpavillons spricht der Spitzenkandidat vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) darüber, was er nach der Europawahl in Brüssel vorhat. Ein Gespräch über russisches Erdgas, Verbrennermotoren und die Gefahr des Lobbyismus.
der Freitag: Herr Geisel, Sie kommen aus Ellwangen, sind also ein waschechter Schwabe. Werden Sie in Brüssel folglich für mehr Haushaltsdisziplin kämpfen?
Thomas Geisel: Guter Punkt (lacht). Zugegeben, ich bin tatsächlich der Meinung, dass man mit dem Geld auskommen muss, das man zur Verfügung hat. Auch Europa hat ja – pardon – keinen Geldscheißer, sondern gibt das Geld seiner Mitgliedsstaaten aus. Die Frage ist: Braucht die Europäische Union, insbesondere die Kommission, wirklich immer mehr Geld?
Und, braucht sie?
Es gibt eine Reihe von Förderprogrammen in der EU, wo man den Eindruck hat: Besonders effizient ist das nicht, wie da Geld ausgegeben wird. Da ist wirklich ein byzantinisches System entstanden, wie ich es mal genannt habe.
Was meinen Sie damit?
Mittlerweile hat sich eine regelrechte Beraterindustrie zum Abgreifen von EU-Fördermitteln entwickelt. Wenn man ein vernünftiges kommunales Projekt hat, kommt irgendwann jemand und sagt: Hey, dafür gibt es Fördermittel aus Brüssel, da kriegst du einen erheblichen Teil refinanziert! Und dann wird einem erst einmal erklärt, was alles zu berücksichtigen ist, damit das Projekt unter die Förderkriterien fällt. Am Ende wird dann aus einem tollen Projekt ein nicht mehr ganz so tolles Projekt. Und die Antragstellung ist so kompliziert, dass eine Kommune das aus eigener Kraft gar nicht schaffen kann, sondern erneut auf die Hilfe von Beratern angewiesen ist. Da muss doch die Frage erlaubt sein: Ist es wirklich sinnvoll, solche Projekte über eine Bürokratie in Brüssel zu steuern? Oder wäre es nicht eine effizientere Mittelverwendung, wenn Sie den Kommunen das Geld direkt geben?
Wollen Sie der EU Kompetenzen wegnehmen?
Darum geht es mir nicht. Ich bin ein Anhänger des Subsidiaritätsprinzips: Supranationale Einheiten sollen sich nur um die Dinge kümmern, mit denen die Mitgliedsstaaten überfordert sind. Manchmal habe ich bei den riesigen Fördervolumina in Brüssel eben meine Zweifel, ob dieses Prinzip noch eingehalten wird. Denken Sie an den European Green Deal: Da will die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in den nächsten zehn Jahren eine Billion Euro von Brüssel aus verteilen.
Im BSW-Parteiprogramm ist von „vermeintlicher Klimapolitik“ die Rede. Wieso der negative Ton?
Ich glaube, vieles, was wir in diesem Bereich machen, ist in erster Linie Symbolpolitik. Ein Beispiel: das Verbot des Verbrennermotors.
In der EU dürfen ab 2035 keine Neuwagen verkauft werden, die mit Benzin oder Diesel laufen.
Ich halte diese Politik für Unsinn. Nicht nur wegen der extrem schädlichen Auswirkung auf die deutsche Automobilindustrie, die immer noch das Rückgrat unserer Industrienation ist. Viel wichtiger ist, dass es der Branche jeden Anreiz nimmt, in den nächsten Jahren noch in die Effizienzsteigerung von Verbrennungsmotoren zu investieren. Das halte ich, auch klimapolitisch, für das falsche Signal.
Welches Auto fahren Sie privat?
Einen alten Diesel, 13 Jahre alt.
Klingt wenig umweltfreundlich.
Der verbraucht sechs Liter auf 100 Kilometer, so schlecht ist das nicht für eine Familienkutsche. Ich habe fünf Kinder, mit dem Wagen können wir alle zusammen in den Urlaub fahren. Der entscheidende Punkt ist: Wenn man weiterhin investieren würde in diese Technik, könnte man dasselbe Auto in ein paar Jahren wahrscheinlich mit einem Verbrauch von drei Litern entwickeln. Und ein Drei-Liter-Diesel wird in seiner Klimabilanz auf absehbare Zeit einem Elektroauto überlegen bleiben, wenn man den ganzen Lifecycle, also Produktion, Betrieb und Entsorgung des Fahrzeugs, in den Blick nimmt.
Das BSW will, dass wieder russisches Erdgas nach Europa fließt.
Ja, natürlich.
Warum?
Aus vier Gründen. Erstens: Wir beziehen nach wie vor Energie aus Russland, allerdings über Umwege. Beispielsweise wird russisches Erdöl jetzt nach Indien geliefert, dort raffiniert, und dann kriegen wir es hier als Dieselkraftstoff serviert. So verlieren wir auch noch eine Wertschöpfungsstufe. Zweitens: Die Sanktionspolitik hat die Preise für Energierohstoffe dramatisch in die Höhe getrieben. Insofern profitiert Russland paradoxerweise von den Sanktionen, die dem Land eigentlich schaden sollten. Drittens: Erdgas ist der klimafreundlichste fossile Energieträger. Darauf werden wir zumindest mittelfristig nicht verzichten können. Viertens: Seit die Gaslieferungen aus Russland unterbrochen sind, beziehen wir zu einem sehr hohen Preis LNG, also verflüssigtes Erdgas. Hierbei handelt es sich größtenteils um Fracking-Gas aus den USA, das unter ökologisch bedenklichen Umständen produziert, mit einem sehr hohen Energieaufwand verflüssigt und über große Strecken transportiert wird, um dann wieder regasifiziert und in das deutsche Pipelinenetz eingespeist zu werden. Erdgas aus Russland ist von den Produktions- und Transportkosten her viel günstiger und umweltfreundlicher!
Wenn ich böse wäre, würde ich sagen: Der Geisel war 13 Jahre für Ruhrgas und Eon tätig. Aus ihm spricht der Erdgaslobbyist.
Moment, ich war nie Lobbyist! Bei Eon habe ich die Erdgasverträge mit Deutschland, Norwegen und den Niederlanden verhandelt. Das ist was anderes als Lobbyismus.
Warum hängen Sie dann trotzdem so am Erdgas?
Zunächst mal hat es eine deutlich bessere CO₂-Bilanz als andere fossile Energieträger wie Braun- oder Steinkohle. Auch bei der Effizienz erreichen wir mittlerweile Spitzenwerte. In Düsseldorf gibt es ein Gaskraftwerk namens „Fortuna“, das mit einer Effizienz von 85 Prozent Strom und Wärme produziert. Wenn wir das flächendeckend hinbekämen, würden wir klimapolitisch riesige Fortschritte machen.
Oder man baut, statt auf Erdgas zu setzen, die Erneuerbaren aus.
Wir brauchen beides. Natürlich ist es sinnvoll, die Erneuerbaren auszubauen. Aber wir brauchen eine gesicherte Stromversorgung, auch in der sogenannten Dunkelflaute. Alle Eier in das Körbchen „Erneuerbare“ zu legen, ist grüne Symbolpolitik, die die Versorgungssicherheit und damit den Industriestandort insgesamt aufs Spiel setzt. Sinnvoller ist es, mit effizienten Gaskraftwerken die Dekarbonisierung voranzutreiben.
Die EU will 2050 klimaneutral sein. Auch nur Symbolpolitik?
Ich finde es immer schwierig, sich Ziele zu stecken, die so fern in der Zukunft liegen. Die Politiker, die das heute verordnen, werden in 25 Jahren nicht mehr in der Verantwortung stehen. Ich habe es immer etwas konkreter gehalten und damals als OB in Düsseldorf einen Klimabeirat gegründet. Der hatte zum Ziel, die Stadt schon bis 2035 klimaneutral zu machen.
Und wie haben Sie sich das damals vorgestellt?
Wir haben einen linearen Pfad gezeichnet, der die Emissionen langsam, aber sukzessive reduziert hat: durch den Ausbau der Fernwärme, durch Gebäudedämmung und durch Alternativen zum motorisierten Individualverkehr.
Sie wollen die Macht der großen Digitalkonzerne wie Facebook und Google brechen. Wie wollen Sie das auf EU-Ebene schaffen?
Gerade in der digitalen Wirtschaft haben die Datenkraken aus dem Silicon Valley, also die Googles, Metas, Amazons dieser Welt, mittlerweile eine marktbeherrschende Quasi-Monopolstellung. Mit einer wettbewerbsbasierten Marktwirtschaft hat das nichts mehr zu tun. Ordnungspolitisch wäre es daher geboten, diese Monopole zu zerschlagen ...
... das wird Mark Zuckerberg und den anderen CEOs aber gar nicht gefallen …
Entschuldigen Sie mal, glauben Sie, es hat Herrn Rockefeller gefallen, als Roosevelt die Standard Oil Company zerschlagen hat? Das Unternehmen hat damals den ganzen amerikanischen Ölmarkt unter Kontrolle gehabt. Gegen solche Monopole muss man vorgehen, auch wenn es den Chefs nicht passt. Man kann nicht auf die Frösche hören, wenn man den Sumpf trockenlegen will (lacht).
Sahra Wagenknecht redet heute mehr als damals vom Mittelstand und von den Vorteilen der sozialen Marktwirtschaft. Wären Sie auch dann ihr Spitzenkandidat geworden, wenn dieser Shift bei ihr nicht stattgefunden hätte?
Nein. Ich bin ja ein klassischer Sozialdemokrat.
Sogar Nicht-Linke hoffen darauf, dass Wagenknecht mit ihrer Partei die AfD kleinkriegt. Wie genau wollen Sie das schaffen?
Die Leute, die sich von AfD und BSW angesprochen fühlen, sind Leute, die davon enttäuscht sind, wie sich das Land in den letzten 20, 25 Jahren entwickelt hat. Die AfD antwortet ihnen: Wenn ihr uns wählt, könnt ihr euer Mütchen kühlen und ärgert die Vertreter der Altparteien so richtig! Wir sagen: Wenn ihr uns wählt, ärgert ihr die auch, bekommt aber obendrein vernünftige Lösungen. Es ist ja nicht so, dass dieses Land nicht alles hätte, um eine erfolgreiche Industrienation zu sein. Die Ampel betreibt eine Wirtschaftspolitik mit Ideologie und Bürokratie. Was wir brauchen, ist eine Wirtschaftspolitik mit Vernunft und klarem ordnungspolitischen Kompass. Dafür stehen wir.
Vor ein paar Jahren hatten Sie in der WDR-Doku „Ungleichland“ einen unglücklichen Auftritt: Vor laufender Kamera haben Sie als OB dem ebenfalls in Düsseldorf aktiven Immobilienspekulanten Christoph Gröner die Hand geschüttelt. Werden in Brüssel die Lobbyisten auch wieder bei Ihnen ein und aus gehen?
Keine Bange: Ich verfüge über genügend Anstand, Urteilsvermögen und charakterliche Festigkeit, um mich nicht beeinflussen zu lassen. Natürlich habe ich als Oberbürgermeister mit vielen Immobilienentwicklern geredet und dabei in der Regel recht schnell gemerkt, wer wirklich bauen und wer nur spekulieren will.
erschienen auf freitag.de am 04.06.24
Genau so ist es! Und ja, genau darum geht es, was hier in Kurzform auf den Punkt gebracht wurde! Danke!
Warum sieht das BSW die AfD als Feind und nicht als Verbündeten gegen die Einheitspartei? Die Einheitspartei hat Deutschland seit der sog. Bankenkrise systematisch zerstört nach dem Motto: "Wir werden weiter marschieren, bis alles in Scherben fällt..."
Und genau das wird passieren, denn wenn die Einheitspartei nicht entmachtet wird, wird sie einen Krieg gegen Russland anfangen. Gerade die GrünInnen zeigen ja deutlich, von welcher Partei sie abstammen (A.H. war der erste Grüne: Vegetarier, Umweltschützer, Antisemit*, Schöpfer eines vereinten Europas inklusive Osterweiterung). Die kulturelle und wirtschaftliche Vernichtung Deutschlands genügt der Einheitspartei nämlich nicht, sie will die totale Katastrophe.
Und es ist leider wirklich so, daß der Deutsche nur aus der totalen Katastrophe zu lernen scheint, und auch dann nur für 3-4…