Deutschland lobt die Solidarität des Westens. Doch einen sinnvollen Beitrag für einen tragfähigen Frieden in der Ukraine leistet der Westen nicht. Die Sanktionen werden das System Putin nicht erschüttern. Ein Kommentar von Thomas Geisel.
„Russlandversteher“ oder gar „Putin-Versteher“ haben gegenwärtig keine Konjunktur. Wie auch?
Der Überfall auf die Ukraine ist ein eklatanter Völkerrechtsverstoß und seine Begründung – die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine – mutet ebenso absurd an wie die „Hilferufe“, mit denen die Sowjetunion in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Niederschlagung demokratischer Bewegungen in ihrem Herrschaftsbereich zu rechtfertigten versuchte.
Dass sich der Westen von Putin betrogen fühlt, ist verständlich.
Schwer vorstellbar, dass Bundeskanzler Scholz oder Präsident Macron zum Herrscher im Kreml je noch einmal Vertrauen entwickeln können, nach dem er sie am langen Tisch ganz offensichtlich hintergangen hat.
Und es hat den Anschein, als würde der Krieg immer unbarmherziger geführt. Die Zerstörungen beschränken sich schon lange nicht mehr allein auf militärische Ziele. Die Zahl der Opfer, gerade auch unter der Zivilbevölkerung, steigt von Tag zu Tag und Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind auf der Flucht. Und nicht wenige machen sich Sorgen, wozu ein Mann noch fähig sein wird, der sein Land seit über 20 Jahren mehr oder weniger uneingeschränkt beherrscht und dem Vernehmen nach in den letzten beiden Jahren selbstauferlegter Corona-Isolation praktisch nur noch von Ja-Sagern umgeben war.
Der Westen, die NATO ebenso wie die Europäische Union, gefällt sich darin, sich selbst eine lange nicht mehr gekannte Geschlossenheit zu attestieren.
Der gemeinsame Feind schweißt offenbar zusammen und fördert einen Überbietungswettbewerb, wie man Russland immer mehr und immer vollständiger isolieren kann.
Der Handel mit Russland ist – im Moment noch mit Ausnahme der Energielieferungen – nahezu zum Erliegen gekommen, westliche Unternehmen stellen ihre Geschäftsaktivitäten in Russland ein, der Luftverkehr ist ausgesetzt und auch ansonsten findet praktisch kein Austausch mit Russland mehr statt. Gastspiele russischer Kulturschaffender werden abgesagt, russische Athleten und Mannschaften von internationalen Sportveranstaltungen ausgeschlossen und Städtepartnerschaften mit russischen Kommunen auf Eis gelegt.
Bisweilen treibt die Putin-Phobie schon bizarre Blüten: der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker wird entlassen, weil er sich vom Herrscher im Kreml nicht ausdrücklich lossagen möchte, und Exkanzler Gerhard Schröder wird aufgrund seiner persönlichen Freundschaft zu Putin zur Persona non grata, von der man noch nicht einmal eine Spende annehmen möchte.
Selten war die Übereinstimmung in Politik und Medien so groß wie in diesen Tagen: Wir sind die Guten und zeigen es dem Bösewicht im Kreml. Damit hat man ein gutes Gewissen.
Mit verantwortungsvoller Außenpolitik allerdings hat dies wenig zu tun.
Zum einen ist zu bedenken, dass immer radikalere Sanktionen und Strafmaßnahmen gegen Russland kaum dazu führen dürften, das System Putin nachhaltig zu erschüttern. Das Gegenteil ist viel eher zu befürchten: Wer glaubt, Russland wirtschaftlich und sozial isolieren zu können, leistet einer Wagenburgmentalität in Russland Vorschub, die die bestehenden Herrschaftsverhältnisse eher stärkt als schwächt. Die Russen sind ein stolzes und, wie die Geschichte wiederholt gezeigt hat, leidensfähiges Volk, das gerade dann zusammensteht, wenn es von außen unter Druck gesetzt und in den Augen nicht weniger Russen in die Knie gezwungen und gedemütigt werden soll.
Vor allem aber hat derlei Außenpolitik, die man heutzutage gerne als „wertebasiert“ bezeichnet, recht wenig mit dem zu tun, worum es in der Außenpolitik eigentlich gehen sollte: nämlich unseren nationalen und europäischen Interessen.
Hier geht es zunächst einmal um eine stabile Friedensordnung. Es wird in diesen Tagen gerne die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki aus dem Jahr 1976 bemüht, die die Unverletzlichkeit der Grenzen garantieren sollte. Der Angriff auf die Ukraine markiere insoweit das Ende der Nachkriegsordnung, als Russland entgegen der in der KSZE-Schlussakte festgelegten Grundsätze versuche, Grenzen mit Gewalt zu verschieben.
Es stimmt: Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist mit den Grundsätzen von Helsinki selbstverständlich absolut unvereinbar. Das Ende der Nachkriegsordnung wurde aber bereits vor 30 Jahren eingeleitet.
Die Nachkriegsordnung und damit die Welt der KSZE-Schlussakte ist die Welt des Eisernen Vorhangs und des kalten Krieges zwischen Nato und Warschauer Pakt. Damit ist es seit dem Fall der Mauer, dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa und dem Zerfall der Sowjetunion vorbei. Zahlreiche Grenzen wurden seither aufgehoben oder neu geschaffen. Die DDR ist der Bundesrepublik Deutschland beigetreten, Jugoslawien löste sich – begleitet von blutigen Kriegen – in mittlerweile sieben souveräne Staaten auf, die Tschechoslowakei existiert nicht mehr und aus den ehemaligen Sowjetrepubliken wurden souveräne Staaten.
Und im Zuge dieses Zusammenbruchs der Nachkriegsordnung haben sich die machtpolitischen Koordinaten deutlich verschoben. Das seinerzeit als äußerst großzügig verstandene Zugeständnis von Michail Gorbatschow, dass auch ein wiedervereinigtes Deutschland nicht neutral werden müsse, sondern Mitglied der Nato bleiben könne, leitete in der Folge eine dramatische Ausdehnung der Nato ein, die sich im Laufe der Jahre einen Großteil der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten sowie die ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken einverleibte.
Sprach man unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs noch vom „großen europäischen Haus“ und einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur mit Russland, so dürfte sich die Nato heute nach ihrem eigenen Verständnis – vor allem aber dem ihrer neuen östlichen Mitgliedsländer – in erster Linie als Beistandspakt gegen Russland empfinden. Was wir seit Beginn der Nato-Osterweiterung erleben, ist das Entstehen eines neuen kalten Krieges, der sich von seinem Vorgänger allenfalls darin unterscheidet, dass sich die Machtbalance deutlich verschoben hat.
Dass Russland dies als Bedrohung empfindet, wird jeder verstehen, der einen Sinn für Geschichte und Geografie hat.
Auch wenn es angesichts der Gräuel des Ukraine-Krieges schwer vorstellbar erscheint: Zu einer Sicherheitspartnerschaft mit Russland gibt es keine Alternative. Stabile und nachhaltige Sicherheit in Europa wird es nur mit, nicht ohne und schon gar nicht gegen Russland geben.
Bezeichnenderweise war es ausgerechnet Wladimir Putin, der bei seiner Rede im Deutschen Bundestag vor über 20 Jahren den kalten Krieg für beendet erklärte und eine „dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur“ in Aussicht stellte, wobei er auch deutlich machte, dass Russland hierbei ein Partner auf Augenhöhe sein müsse und nicht ein Paria, der lediglich im Nachhinein Entscheidungen der Nato bestätigen sollte. Von einer solchen gemeinsamen Sicherheit sind wir heute bedauerlicherweise weit entfernt.
Und dennoch lohnt sich die Lektüre dieser Rede, zeigt sie doch auf, an welchen gemeinsamen Interessen eine außenpolitische Zusammenarbeit zwischen Russland, Deutschland und Europa – auch heute noch – anknüpfen kann.
Da wäre zum einen die Bedrohung durch islamistischen Terror und religiösen Fanatismus. Der damals noch junge russische Präsident wies gerade einmal 14 Tage nach den Anschlägen vom 11. September darauf hin, dass sich derlei Bedrohungen der herkömmlichen Blockkonfrontation entziehen und deshalb gemeinsam hierauf begegnet werden müsse.
Hätte man sich dies zu Herzen genommen, wäre der Welt – namentlich in Syrien, wo bis heute ein „Stellvertreterkrieg“ geführt wird – viel Elend und – wer weiß? – dem Westen vielleicht auch das Fiasko von Afghanistan erspart geblieben.
Auch Putins damaliger Hinweis, dass Europa „seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit dem Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzial Russlands vereinigt“, dürfte vor dem Hintergrund der imperialen Ambitionen Chinas und zunehmender isolationistischer Tendenzen in den Vereinigten Staaten heute aktueller denn je sein.
Es wäre in der Tat ein Verhängnis, wenn immer rabiatere Sanktionen des Westens dazu führten, dass Russland nolens volens zum (Junior-)Partner des Reichs von Xi Jinping würde. Die wirtschaftliche Vormachtstellung Chinas würde damit zementiert und die Rohstoffversorgung des Westens noch prekärer, als sie ohnehin bereits ist.
Die Ära Putin wird zu Ende gehen, aber Russland wird niemals von der Weltkarte verschwinden.
Deshalb gilt es, jetzt die Weichen für die Zukunft zu stellen. Gesinnungsethischer Rigorismus ist dabei mit Sicherheit kein geeigneter Ratgeber. Stattdessen muss es um unsere langfristigen Interessen gehen, konkret: um gemeinsame Sicherheit, Stabilität und die nachhaltige Sicherung unseres Wohlstands!
Der Beitrag wurde am 10.03.2022 auf thepioneer.de veröffentlicht; https://www.thepioneer.de/originals/thepioneer-expert/articles/gutes-gewissen-schlechte-aussenpolitik?utm_medium=newsletter&utm_source=hauptstadt-das-briefing
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